Heute, am Buß- und Bettag schreibe ich diese Gedanken für den Beginn der Adventszeit und mir wird dabei bewusst, wie sich dieser Tag verbindet mit den Wochen, die vor uns liegen. Advent – Zeit der Erwartung der Geburt Jesu Christi. In früheren Zeiten eine strenge Bußzeit und noch heute Gelegenheit, still zu werden, mich zu besinnen, einzukehren bei mir, meine Sehnsucht neu zu spüren nach dem, was mein Leben in der Tiefe ausmacht, frei zu werden von dem, was mich bindet, neu anzufangen. Ja, ich sehne mich tatsächlich nach Zeiten der Muße, nach Geborgenheit, Frieden, Einssein mit mir, mit Gott, mit den Menschen, die mich umgeben. Ich höre die hoffnungsgeschwängerten Verheißungen vom Kommen des Friedefürsten, vom Volkes, „das im Finstern wandelt und sieht ein großes Licht“ (Jes 9,1), jedoch zugleich ist es weder in der Welt friedlich noch in mir selber. Die täglichen Schreckensnachrichten mischen sich in meine vergleichweise kleinen Alltags-Ärgernisse und – Sorgen und verstärken diese noch. Es ist nicht still in mir, wenn ich Stille suche!
Was kann ich tun? Ja, die Verheißungen gelten - in die großen Bilder des Trostes, der Befreiung, des Heils kann ich mich hinein bergen wie in eine wärmende Decke oder - in meiner Kindheit - die bergenden Arme meiner Großmutter. Davon ausgehend, gezogen von dieser Sehnsucht, mich dann den störenden, dem Frieden quer stehenden Bewegungen in mir selber stellen.
Besinnung, Umkehr, mich bereiten…
Gegenüber den Geschehnissen, den skrupellosen Machthabern der Welt fühle ich mich ohnmächtig.Wie weit weg scheint da die Aussicht auf Frieden und Menschlichkeit. Die „Wölfe“ lauern überall: Hochmut, Stolz, Gier, Herrschen-Wollen und dabei „über Leichen gehen“. Leicht zeige ich mit dem Finger auf „die da“. Und „die da“ können bereits die eigenen Mitschwestern sein. Allerdings: Friede beginnt bekanntlichermaßen im eigenen Herzen und der eigene „Wolf“ knurrt am Lautesten. An ihm (wie übrigens an allen inneren Bewegungen und Gefühlen), führt kein Weg vorbei, wenn ich frei werden, neu beginnen möchte, offen für die Ankunft des Herrn.
Da ich mich auch immer wieder inspirieren lasse vom Leben des Hl. Franziskus, fiel mir in diesem Zusammenhang die Legende „Franziskus und der Wolf von Gubbio“ ein. Da die Geschichte sehr lang ist, hier eine Zusammenfassung (in voller Länge ist sie leicht im Internet zu finden): Aus den Fioretti des hl. Franziskus (Legendensammlung aus dem 14. Jh., gekürzte Fassung)
„Zu Lebzeiten des seligen Vaters Franz lebte in der Umgegend der Stadt Gubbio ein Wolf, der war von schreckhafter Größe und in seinem Hunger von so grimmiger Wildheit, dass er alle Bürger in Angst versetzte, und alle gingen bewaffnet, wenn sie die Stadtmauer verließen, als gelte es, einen gefährlichen Krieg zu führen. Da empfand der heilige Franz Mitleid mit den Leuten und beschloss, dem Wolf entgegenzutreten, und so schritt er unbewaffnet vor das Stadttor und ging dem Wolf ohne Furcht entgegen. Und siehe, angesichts der vielen Menschen, die von erhöhten Orten aus zuschauten, rannte der schreckliche Wolf auf den heiligen Franz zu; dann hielt er plötzlich inne, und der schaurig aufgesperrte Rachen schloss sich. Franz rief ihn her und sprach: »Komm zu mir, Bruder Wolf! Im Namen Christi befehle ich dir, weder mir noch sonst jemand einen Harm zu tun!« Da kam das Untier gesenkten Kopfes heran und legte sich gleich einem Lamme dem heiligen Franz zu Füßen.
Wie er so vor ihm lag, sprach dieser zu ihm so: »Bruder Wolf, alle klagen mit Recht über dich und die ganze Gegend ist dir Feind. Aber jetzt will ich zwischen dir und den Leuten Frieden machen.« Da hob der Wolf die rechte Tatze und legte sie zutraulich in die Hand des heiligen Franz. Damit gab er ihm das Zeichen der Treue, so gut er's vermochte. Und er folgte dem heiligen Franz gleich einem sanften Lamme. Wie das die Leute sahen, waren sie aufs Höchste verwundert. Vor der zahlreichen Menge hielt der heilige Franz eine wundersame Predigt und schloss: »Ich verbürge mich für Bruder Wolf, dass er den Friedensvertrag getreulich achten wird.« Da versprachen alle Versammelten, sie wollten fortan den Wolf ernähren. Und der Wolf lebte noch zwei Jahre und ließ sich von Tür zu Tür die Nahrung geben, ohne jemand ein Leid zu tun; und auch die Leute taten ihm nichts zu Leide und fütterten ihn freundlich. Und sonderbar, nie bellte ein Hund gegen ihn. Schließlich starb Bruder Wolf an Altersschwäche. Die Bürgersleute waren über seinen Tod sehr traurig. - A laude di Cristo. Amen."
Kenne ich meinen inneren Wolf? Oder meine Wölfin? Oder mein Wildschwein oder meine Schlange…? Welches Tier lebt in mir in seiner unbändigen Kraft und tobt in mir, wenn seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, weil es sich ungerecht behandelt fühlt, neidisch ist, Angst vor Macht- und Kontrollverlust hat und und und …?
Wie kann ich mit meinem inneren „Wolf“ umgehen? Franziskus macht es uns in der Begegnung mit dem Wolf von Gubbio vor:
1. Dem Wolf gegenübertreten und ihn anschauen
Das ist vielleicht der schwerste Schritt. Wie gerne würde ich einfach ausweichen, weglaufen, den Wolf einsperren, das Knurren ignorieren. Nur leider – dann ist der Wolf nicht einfach weg, im Gegenteil: er wird meist noch bedrohlicher. Franziskus tritt dem Wolf mutig und gewaltlos entgegen, er ist nicht sein Feind, sondern „Bruder Wolf“ Er ruft ihn heraus aus dem Dunkel ins Licht. Ich setze mich also meinen unangenehmen Gefühlen aus, denen, die ich lieber nicht hätte, begegne ihnen auf Augenhöhe, als Schwester/ Bruder.
2. Den Wolf ernst nehmen und akzeptieren
Den „Wolf“ und sein Gewaltpotential, die Zerstörungskraft nicht verharmlosen, sondern als das nehmen, was sie sind. Doch Franz sieht dahinter. Er erkennt das Geschöpf Gottes, das hungrig ist und erbarmungslos gejagt wird. Und er weiß, dass sich der Wolf zähmen lässt, falls er genug zum Leben bekommt und nicht verfolgt wird. Was will mir der Wolf mitteilen? Was liegt hinter meiner aggressiven Reaktion, meinen negativen Gefühlen…? Habe ich noch irgendwo eine Verletzung, die nicht verheilt oder nicht versöhnt ist? Wonach „hungere“ ich eigentlich? Nach Gesehen-Werden, Gerechtigkeit, …
3. Dem Wolf das Lebensnotwendige geben und Frieden schließen
Die Liebe, mit der Franz den Wolf annimmt, bewirkt Verwandlung und Veränderung. Zum Versöhnungsweg gehören beide Seiten: Vom Wolf wird ein Zeichen der Treue gefordert, das ihm selber entspricht und nicht irgendwelchen Erwartungen von außen. Der Friede wird schließlich im Namen des Herrn besiegelt. Anschließend wird ein Raum des Friedens geschaffen und Franziskus vermittelt dem Wolf das, was zur Friedenserhaltung notwendig ist. Das finde ich aufschlussreich: Zur Erinnerung an den Frieden braucht es sichtbare Zeichen. Welches Symbol, welches Zeichen erinnert mich an meinen „Bruder Wolf“ und meinen „Friedensvertrag“ mit ihm? So wie Franziskus dafür sorgt, dass der Wolf das Lebensnotwendige bekommt, muss ich mich ebenso kümmern um die Grund-Bedürfnisse meines Wolfes, damit er „gezähmt“ wird.
Achte ich also in meinem Alltag sensibel, aufmerksam auf das Grummeln in mir – vielleicht ist es der Wolf, der Hunger hat? Widme ich ihm ein wenig Aufmerksamkeit, horche: „was fehlt dir? Was brauchst du?“ Am besten bevor er beginnt, andere anzugreifen. Ich stelle mir vor, wie ich zusammen mit Gott liebevoll auf meinen knurrenden Wolf blicke: „Ich sehe dich!“, und nachspüre, was er gerade braucht – Nähe, Anerkennung, Gerechtigkeit, Geborgensein, …Kann ich ihm davon etwas geben, mich mit meinem hungrigen Wolf zusammen der Fürsorge Gottes hinhalten?
Vielleicht wird es dann ein wenig heller in mir, freier, weiter … und um mich herum, weil ich den Wölfen der anderen auch weniger ängstlich begegnen kann, geschwisterlicher…? Und ich komme in Berührung mit der tieferen Sehnsucht meines Lebens, dem Geheimnis meines Lebens, dem Geheimnis Gottes in mir.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und euch einen gesegneten Weg durch die Advents-Zeit,
Sr. Silja Grotewold