Mit Schülern einer 7. Klasse stehe ich vor dem großen Wandbild, gemalt von Sr. Christamaria Schröter CCB, in der Eingangshalle unseres Ordenshauses in Selbitz. Die Aufgabe der Jungen und Mädchen ist es, im Bild enthaltene, aber durch Farben und Formen verborgene Sätze und Wortgruppen zu suchen und zu entziffern. Es sind Worte, die unsere Gründerin Hanna Hümmer im Gebet gehört hat und wichtige Grundlagen unserer Communität darstellen. Sie sind sozusagen das „innere Programm“, die Wegweisung, der Auftrag, die Sendung.
„T … mein Leben …Tod d … Zeit …“? buchstabieren sie gemeinsam.
„Ja, super; ihr seid auf der richtigen Spur. Das Wort heißt: Tragt mein Leben in den Tod dieser Zeit... und es geht noch weiter … “
Ich bin natürlich im klaren Vorteil, da ich die Worte kenne und auch liebe. „Tragt meinen Tod in den Schein dieses Lebens.“
Leben im Tod dieser Zeit
Aha – und was heißt das? Ich schaue in fragende Gesichter… „Tragt mein Leben in den Tod dieser Zeit. Tragt meinen Tod in den Schein dieses Lebens.“ Sprachlich finde ich es wunderschön. Es ist wie Balsam, wie Öl, aber auch knallhart und radikal. Was ist hier Tod und was ist Leben? Es ist umgedreht, anders als wir es in unserem Sprachgebrauch normalerweise empfinden und „meinen Tod und Leben“ werden hier – von Christus her – neu gedeutet. Über allen Worten auf dem Wandbild ist das Kreuz gemalt – ein Kreuz mit einer Dornenkrone. Die Worte lassen sich nur verstehen, wenn ich sie Christus sprechen höre.
Mit den Schülern suche ich gemeinsam weiter dieses Zeichen: Kreuz und Dornenkrone an verschiedenen Orten unserer Gemeinschaft. Wir finden es an den Türgriffen der Eingangstür des Ordenshauses, in einem großen Glasfenster in der Kapelle, am Grundstein außen am Haus und jede Schwester trägt so ein Kreuz. Bei wichtigen Gottesdiensten der Communität, wenn z.B. Schwestern ihr Versprechen von nun an zur Gemeinschaft zu gehören ablegen, hängt ein großer Dornenkranz im Altarraum, erzähle ich ihnen.
Dieses Wort von „Tod und Leben“ gehört in die Geburtsstunde der Gemeinschaft: Karfreitag 1948. In einer Zeit, die vom Tod eines Weltkrieges geprägt und geschüttelt war, ruft Gott eine kleine Schar junger Menschen in Schwarzenbach/ Saale, eine kleine Porzellanarbeiterstadt in Oberfranken, zum gemeinsamen Leben „hinter Ihm her“. In diesen Jahren werden verschiedene geistliche Gemeinschaften in der evangelischen Kirche als Keimzellen des Lebens geboren. Sie leben, weil Einer für sie gestorben ist. Sie sollen Christusleben in den Tod dieser Zeit tragen und den Christustod in den Schein dieses Lebens. Ein schöner, aber kein leichter Auftrag. Damals, am Anfang der kleinen Gemeinschaft, gab es viel Gegenwind. Heute sind wir „etabliert“ und haben einen guten Ruf und Namen. Wenn wir aber dem Christusleben und Christustod treu bleiben, werden wir in Zukunft wohl auch wieder mehr Widerstände erdulden müssen.
Ein steiler Weg
Ich sehe die jungen Menschen vor mir und wünsche mir so, dass sie diesen Unterschied zwischen Tod und Leben begreifen – ein Tod, der Heil bringt, weil ihm durch Christus der letzte Sieg geraubt ist, und Leben, das zutiefst satt und erfüllt ist, mehr als alle Güter der Welt geben können. Ich weiß, dass nur Jesus selbst in ihnen der Schlüssel sein kann. Und ich spüre auch die Verantwortung und Freude, hier an dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt Zeugin zu sein für andere Werte als die Jungen und Mädchen sonst in ihrem Alltag höchstwahrscheinlich vermittelt bekommen.
Ein weiteres Wort ist zu erkennen: „Ein steiler Weg liegt vor euch – wollt ihr ihn gehen?“
Mit diesem Wort verbinde ich eine ganz persönliche Erfahrung: Es ist der 20. Dezember 2002. Ich habe meinen ersten Tag als Postulantin, dem ersten Wegabschnitt in die Communität, gelebt. Nach dem Abendgebet trifft sich jeden Tag die Gemeinschaft zum informellen Austausch, der mit einer kurzen fortlaufenden Regellesung beendet wird. An diesem Abend wird nur dieser eine Satz gelesen: „Ein steiler Weg liegt vor euch – wollt ihr ihn gehen?“ Ich stutze – natürlich will ich ihn gehen, sonst wäre ich nicht hier. Und ich bin auch bereit, mich dafür anzustrengen. Ich bin hochmotiviert „für die Bergtour“… Wochen später sitzen wir schweigend als Postulatsgruppe beim Mittagessen. Vieles ist schwierig im gemeinsamen Leben. Wir sind so dermaßen verschieden. In diesem ersten Jahr leide ich sehr an den Unmöglichkeiten des einfachsten Miteinanders. Ich weiß mich von Christus ganz klar berufen in diese Gemeinschaft, aber menschlich komme ich ganz an meine Grenze. So habe ich es mir nicht vorgestellt. Dieses Wegstück habe ich mir nicht ausgesucht. Es ist steil. „Jesus beruft nicht zum Einzel-Noviziat …“ höre ich in diesem Jahr einen Exerzitienleiter in unserem Haus sagen. Wie mir dieser Satz quer liegt! Wenn ich allein wäre, könnte es so gut sein. Doch mit der Zeit wird es anders. Durch viele Begleitgespräche, wo ich meine Denk- und Verhaltensmuster anschauen kann, Gebete, Situationen aushalten und nicht weglaufen, weglaufen und wieder zurückkommen, inneres Ringen und Leiden… nach Monaten stellt sich eine Veränderung ein. Wir können uns besser annehmen, beginnen uns in unserer Verschiedenheit zu achten, lernen uns schätzen. Als stärkste verändernde Kraft erlebe ich die Liebe und die Gebete der Gesamtgemeinschaft und die Erfahrung, dass ich mit meinen Unmöglichkeiten barmherzig ausgehalten werde.
„Tritt ein in den Liebesraum Gottes. Schau auf ihn und bete ihn an, durch den deine Berufung sicheren Grund erhält.“
So beginnt unsere Regel. Ich lerne, dass in der Geschwisterlichkeit, gegen die ich mich am Anfang so sehr gewehrt habe, dieser Raum Gottes für mich als Mensch konkret erfahrbar wird. Heute arbeite ich in unserem Gästehaus und erlebe, wie stark die Menschen immer wieder berührt sind von diesem Liebesraum Gottes, wo sie ankommen können, ein „zu Hause“ empfinden und Frieden erfahren. Und was ist es für ein Geschenk, dass wir als Communität so einen Ort schaffen können durch unsere Hingabe an diesen Gott, aber auch an die Gemeinschaft.
Der Weg ist immer noch steil. Aber ich habe mich an die Strapazen der gemeinsamen Bergtour – diesbezüglich – gewöhnt. Heute bin ich froh, nicht zum „Einzel-Noviziat“ berufen worden zu sein. Das Steile des Weges ist für mich heute eher die Herausforderung und der Anspruch, täglich nach dem Willen Gottes zu fragen „was willst du heute durch mich und durch uns tun?“. Und nicht müde werden, mich dieser Frage täglich zu stellen, unterwegs zu bleiben. Auch in einer Communität ist es möglich, in die Routine des Alltags, des Miteinanders, des Gebetes, der Sendung zu verfallen. Ich brauche die ganze Kraft meines Willens, dieses Leben fruchtbar und frisch leben zu wollen, Tag für Tag. Ich brauche das Evangelium, das mir in jedem Augenblick die Möglichkeit der Umkehr anbietet. Und ich brauche diese Umkehr. Ich brauche Wachheit dafür.
Mit den Jungen und Mädchen lese ich weiter:
„Wisset, ihr seid eins.“
Und ich zeige ihnen, dass dieses Wort, seit meiner Profess, der lebenslangen Bindung an die Gemeinschaft, auch auf der Rückseite meines Kreuzes eingraviert ist. Es ist von außen also nicht gleich sichtbar, aber so wichtig, dass es wert ist, täglich auf dem Herzen getragen zu werden. Wie erkläre ich es aber?
„Also, damit ist gemeint, dass wir ein Team sind, wie eine Fußballmannschaft. Ihr gehört zusammen, ihr habt ein gemeinsames Ziel, jede hat eine andere Aufgabe, aber es geht nur miteinander … fair play. Setzt euch immer wieder dafür ein, das ihr eine Mannschaft bleibt … und gemeinsam spielen macht auch Spaß …“ Um Einheit in der eigenen Gemeinschaft zu ringen, ist eine Aufgabe, die Zeit braucht und die tiefe Gewissheit, dass wir alle das Gute wollen. Zusammenspiel, Teamgeist, Vergebung gewähren, wenn die andere mich „foult“ oder um Vergebung bitten usw. ist eine hohe Schule des Menschseins. Sich einander ergänzen, ertragen in guten wie in bösen Tagen, sich mitfreuen und mitleiden…alles nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass wir zunächst nicht aus Sympathie und Freundschaft zusammen sind. Wir haben uns einander als Schwestern nicht ausgesucht. Ich lebe mit Schwestern in einer Wohngemeinschaft, die ich mir nicht gewählt habe und sie mich auch nicht. Das Erstaunliche – es geht! Der unsichtbar Verbindende ist Christus, Sein Ruf an uns und das Kreuz. Christus schafft wirklich eine neue Familie. Es entsteht Christusbruderschaft.
Die Berufung zur Einheit ist ein zentraler Auftrag unserer Gemeinschaft. Er geht auch über uns, zu anderen Gruppen und Kirchen des Leibes Christi, hinaus. In unserer Regel steht: „Durch die Versöhnung, die Jesus Christus am Kreuz erworben hat, bist du eins mit deinen Schwestern und Brüdern. Eins seid ihr auch mit allen, die an Jesus Christus glauben und getauft sind, in der evangelischen Kirche, ja, . Lass das Gebet Jesu um die Einheit seines Leibes in dir brennen. Vermeide, was diese Einheit stört und setze dich ein, wo du kannst, für das, was diese Einheit fördert.“ Pfr. Walter Hümmer, der Gründer der Communität, hatte diese Einheit des Leibes Christi besonders auf seinem Herzen. Lese ich heute in , staune ich oft über diese prophetischen Worte aus den ca.1950 – 1970er Jahren, z.B. „Eine Welle der Säkularisierung geht durch unsere Welt. In nicht allzu ferner Zukunft wird es nicht mehr um katholisch oder evangelisch gehen, sondern um das Christsein überhaupt. Wir brauchen uns nicht mehr untereinander zu streiten. Es geht um ein gemeinsames Engagement der Liebe im Blick auf die Nöte der Zeit und für die Menschen unserer Tage.“
Unter Orden und Communitäten ist oft etwas von dieser Einheit zu spüren, wie z.B. eine über Jahre gewachsene Freundschaft zu den Franziskanerinnen im Kloster Siessen. Unsere Gemeinschaften verbindet die Liebe zu Christus und die Liebe zu Franziskus und der franziskanischen Spiritualität. Wenn wir uns über verschiedene Themen austauschen, staunen wir oft, wie ähnlich und verwandt wir einander sind. Seit Jahren verbringe ich bei den Franziskanerinnen meine jährlichen Exerzitien. Ich lasse mich inspirieren und beschenken von dem Schatz der katholischen Kirche, der Feier der Liturgie und freue mich am Gespräch über das jeweilige Evangelium des Tages. Umgekehrt bringe ich meinen evangelisch geprägten Glauben mit, der auch ein Schatz ist, der gern aufgenommen wird.(Nebenbei: einmal auf einer Zugfahrt zurück von den Exerzitien wurde ich als Schwester von Siessen angesprochen – soweit kann die Einheit gehen…)
Weitere Worte auf dem Wandbild sind: „ICH in euch und ihr in MIR.“, „Hütte Gottes bei den Menschen“, „Ich weite diesen Raum zur göttlichen Herberge“ - Hütte und Herberge sind Bezeichnungen für einfache Unterkünfte, kein 5-Sterne-Hotel und keine Luxusvilla. In einer Hütte und Herberge gibt es ein Dach über dem Kopf, einen sicheren Ort, einen Platz zum Schlafen. Da ist man nicht allein, wird aufgenommen; da wird Hunger und Durst gestillt und es gibt Brot und Wein. Darüber hinaus ist aber diese einfache Unterkunft göttlich! Das verleiht ihr Licht und Glanz und Weite. Viele Menschen, die zu uns als Gäste, Mitlebende oder nur für einen kurzen Besuch kommen, spüren „Heimat“. „Wenn ich in dieses Haus komme, fühle ich mich zu Hause.“ sagen viele.
Was ist das, was sie spüren, obwohl wir doch gerade einen Konflikt hatten, nicht „gut drauf sind“, eine Menge Alltagsprobleme zu bewältigen haben? Ist es das „ICH in euch und ihr in MIR“?
Menschen eine Heimat zu geben, scheint in unserer Zeit immer wichtiger zu werden: einen Ort haben, wo ich sein darf und auch Glaube als Heimat erfahre. Schon die Jünger des Johannes fragen Jesus: „Wo wohnst du? Wo bist du zu Hause?“ und Jesus sagt: „Kommt und seht!“ und sie kamen und sahen und blieben bei IHM. (Johannes 1, 38.39)
Menschen eine Heimat geben, die sich in ihnen zur Heimat in Gott fortsetzt. Dabei ist in unserer „Hütte“ ein zentrales Geschehen. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich, wie eine Gruppe in unserem Haus singt: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist mein Begehren …“ Menschen suchen Gebet – Gebet und Segen für sich persönlich und für diese friedlose Welt. Es ist wichtig für sie, an einem Ort zu sein, an dem gebetet wird. Und um diesen Ort zu wissen, wenn sie wieder in ihrem Alltag sind. Dass dieser Raum aber auch in ihnen zur göttlichen Herberge werden kann, dass sich Gott tiefer in ihnen einwurzelt, dazu dienen ja auch die vielen Seelsorgegespräche, Exerzitien und geistliche Begleitung. Das ist ein großer Schwerpunkt unserer Arbeit.
Wieder sehe ich das Wandbild im Eingang. In diesem Jahr habe ich mit vielen Schülergruppen davor gestanden. Im gemeinsamen Betrachten und Suchen, im Ringen der Übersetzung für diese jungen Menschen, als Mitglied dieser Ordensgemeinschaft, die unter diesen Worten und Wegweisungen unterwegs ist, sind mir die Worte neu kostbar geworden. Und in unserem Leben ist es wie in dem Bild – die Worte und Verheißungen sind vom Künstler „dreieiniger Gott“ hineingearbeitet. Manche Wortgruppen fallen sofort auf, manche muss ich suchen und buchstabieren... je nach Lichteinfall und Perspektive sind sie verschieden erkennbar. Und ein Wort ganz unten in der rechten Ecke hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Aber über allem steht das Kreuz mit der Dornenkrone – und das ist zu erkennen. Die Farben sind leuchtend und schön und warm – Liebesraum Gottes.
Sr.Beate Seidel, seit 2002 Mitglied der Communität Christusbruderschaft Selbitz